Der Mensch im Zeitalter des Internets ist Bestandteil eines Systems, das ebenso wie ein Gesellschaftssystem einen Identifikationsprozess fordert.
Darüber werde ich mir immer mehr bewusst. Allerdings sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen, welche uns in diesem System umgeben, anders geartet als bisher bekannt. Es gibt uns ein Versprechen und daraus resultiert eine neue, leidenschaftliche Energie. Mit dieser Energie füttern wir das wirtschaftliche und gesellschaftliche System, das dem Internet innewohnt: Wir werden Teil einer Maschinerie, die Vervollständigung, Transparenz, Effizienzstreben und letztlich Erfolg verheißt. Doch hierfür wird ein hoher Preis eingefordert.
Wie sich das fehlerhafte Wesen „Mensch“ selbst weg rationalisiert
Eben diese hoch gesteckten Zielsetzungen nach Vervollständigung, Effizienz und Erfolg begleiten den Onliner durch alle Lebensbereiche. Was bei stetem Engagement im Berufs- und Privatleben, in On- und Offlinewelt verwischt, ist das kostbare Spektrum dessen, was ihn zu einem Menschen macht: Seine Gefühle, mit all ihren hochjauchzenden Tiefschlägen, die farbenfrohe Palette der Unzulänglichkeit des fehlerhaften Wesens „Mensch“, das wir nun einmal seit der Vertreibung aus dem Paradies sind.
Das angesagte Streben nach Effizienz und bedingungslosem Erfolg verlangt danach, die Facetten unseres Menschseins abzustreifen, die nicht durchgehend positiv geartet sind. Selbst in Lebensphasen, in denen unsere Gefühlswelt nicht internetkonform ist, ist der Onliner bemüht, seinen Makel des Menschseins bestmöglich zu verbergen.
Ist das der Preis, den es zu zahlen gilt, um Ziele zu erreichen? Was geschieht, wenn Menschlichkeit an die Öffentlichkeit dringt, wenn wir Schwächen zugeben, Fehler eingestehen, Schwierigkeiten haben, Trauer, Ohnmacht, menschliche Gefühls- und Verhaltensvariationen, die es aus der Online-Welt zu verbannen gilt.
Für den leidenden Werther gibt es keinen Platz in der Online-Welt
Diese Gefühle entstammen dem realen denkenden und fühlenden Menschen, der auf seine Umwelt reagiert, der Prozesse durchlebt und durchleidet. Können sich diese Schwächen und Unzulänglichkeiten auch in seinem digitalen Leben niederschlagen, dort wo kein Platz für Schwächen und Unzulänglichkeiten ist? Dort wo sich jeder im ewig andauernden Glanz des strahlenden Siegers sonnen möchte?
Als Reaktion auf die anhaltende Selbstoptimierung bleibt dem Onliner nur, sich stets in positivem Denken zu üben. Die These des dialektischen Materialismus wird ins Gegenteil verkehrt, wenn es heißt: Im Buddhismus bestimmt das Bewusstsein das Sein. Dort heißt es treffenderweise: „Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht in unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Welt.“
Menschliche Selbstverblendung - Der schöne Schein maschineller Selbstperfektion
Ein starkes Online-Ich in einer Online-Welt, in der keine Schwäche geduldet wird, muss also zwangsläufig eine Verdrängung von Schwachheit und Versagen aus dem Bewusstsein des Onliners bedeuten. Der 1900 von Robert Sommer geprägte Begriff der Psycho-Hygiene wird in diesem Zusammenhang in eine andere Richtung weitergedacht, die sicher nicht in seinem Sinne gewesen wäre. Negative Bewusstseinsinhalte, die aus dem Menschen selbst oder aus seinem Verhältnis zur eigenen Umwelt entstehen, sollten ursprünglich kanalisiert werden, um den Menschen nicht zu belasten. Die „Hygiene-Vorschriften“ des Internets hingegen verbannen die schlechten Emotionen aus dem Sektor des Seins im Internet. Sie besitzen dort keine Existenzberechtigung, wo sich jeder im Positiven und schönen Schein sonnen möchte.
Wer sich selbst keine Schwäche zugesteht, der toleriert diese auch nicht in seinem Umfeld. Aus diesem Grund fordert der Onliner selbst eben diese Einstellung im Umgang mit anderen, die sich der digitalen Welt verschrieben haben. Wem nicht die positiven Attribute der Stärke, des Erfolgs und der Inspiration zugeschrieben werden, wer an der ewig heiteren Unzulänglichkeit des Online-Vergnügens scheitert, dem wird auch menschlicher Kontakt versagt. Isolation des Scheiternden ist die Sanktion, welche die Spielregeln des Netzes mit sich bringen. Eine Studie von Nicholas Christakis von der Harvard University und James Fowler von der University of California in San Diego bestätigt die Erkenntnis, dass Glück von Menschen in sozialen Netzwerken ansteckend wirkt. Glück liebt demnach die Gesellschaft von glücklicher Gesellschaft.
Wir legen die Schablone an: Der internet-normierte Mensch
Der neue Typus Mensch, der sich selbst im Umgang mit der Online-Welt erschafft, ist „internet-normiert“, denn es ist für ihn ein Leichtes, die beschriebenen Anforderungen zu erfüllen.
Indem die Attraktivität dieses Typus für sein Umfeld steigt, wächst komplementär hierzu auch sein Einfluss, denn seinem Ideal folgt, wer an seinem Einfluss teilhaben will. Eben diese Nacheiferungs-Tendenzen nehmen zu. Dieser Typus Mensch wird sich im Internet noch stärker etablieren und zum bestimmenden Element zu einer Normgröße für nachfolgende Generationen werden. Die Verhaltens-Kodierung und die Verhaltens- und Kommunikationsnormierung des Internets birgt die Gefahr, dass diese folglich aus der digitalen in die reale Welt übertragen wird. In Tendenzen ist dies in der realen Welt schon zu beobachten. Doch die Normierung trifft hier auf das breite Spektrum menschlichen Agierens, Kommunizierens, Fühlens, Denkens und Handelns. Alles, was den Menschen individuell macht, hemmt die Normierung. Schwappt aber diese Welle des neuen Menschen-Typus erst einmal aus dem Internet über, wird diese Entwicklung sich im realen Leben beschleunigen.
Selbst die industrielle Revolution, die als Epochenzäsur galt, hat verglichen mit der Ära des Internets in einem nicht annähernd vergleichbaren Tempo Einfluss auf alle einzelnen Lebensbereiche des Menschen gehabt. Einen derart umfassenden und alle Lebensbereiche bestimmenden Einschnitt für den Menschen und sein Sozialverhalten stellt besonders die Möglichkeit der Vernetzung dar. Im Zuge der zunehmenden Globalisierung verspüren wir darüber hinaus ein zunehmendes Bedürfnis nach der eigenen Mitteilung im Netz. Die Synthese aus Kommunizieren, Darstellen und Sein des Menschen im Netz ist zum Sinn stiftenden Inhalt des menschlichen Lebens und zum philosophischen Kern der Wirtschaft geworden.
Selbstoptimierung bis zur Maschinisierung - Der Mensch im 24/7 Kodex
Beinahe alle Bereiche menschlichen Lebens erfahren durch die Maschine eine grundlegende Strukturierung. Als Nutzer der Maschinen müssen und möchten wir flexibel und mobil sein, ein starkes Ego haben, gut sozialisiert und individualisiert sein. Die Erwartungshaltung an unsere Verfügbarkeit wird an die von Maschinen angepasst.
Der definierte 24/7–Kodex ist naturbedingt nicht auf Menschen übertragbar. Das Ruhe- und Regenerationsbedürfnis des Menschen ist für sein körperliches wie psychisches Überleben unabdingbar. Die Frage, die sich aufdrängt ist: Was geschieht mit dem Menschen, wenn er sich selbst soweit optimiert, dass er der Maschine beinahe gleichkommt? Die angestrebte Übertragung maschineller Eigenschaften auf uns Menschen erschafft neue Leitwerte für den gegenwärtigen Menschen, weil sie erst sein erfolgreiches Online-Leben ermöglichen.
Der Mensch als Initiator seines neuen Menschseins?
Die Orientierung an den Maschinen führt uns vor Augen, dass nicht das zählt, was unser tiefstes menschliches Sein ausmacht. Unsere tatsächlichen Fähigkeiten, Eigenheiten und Bedürfnisse, die uns menschlich machen, sind irrelevant, wenn sie sich nicht verkaufen lassen.
Was in unserer schönen neuen Welt zählt, ist nicht der Mensch mit all seinen Gefühlen, Gedanken und seinem tatsächlichen „Mensch-Sein“, sondern die Inszenierung seines Seins.
Erfolgreich macht nicht, was tatsächlich vorhanden ist, sondern was suggeriert und erschaffen wird. Der Mensch wird zum Gestalter seines neuen Ichs - seiner Online-Existenz. Die bloße Entwertung des tatsächlichen Seins, dessen, was wir den menschlichen Charakter und Authentizität nennen, ist eine Entwürdigung des Selbst-Seins. Folglich findet Selbst-Erleben seine Kompensation nur in dem Begriff des Habens.
Das Haben aber verlangt - anders als das Sein - immer nach mehr. Konsumieren ist die moderne Form des Habens, die schnell an Reiz verliert. Fromm fasst diese moderne Form des Habens unserer Konsumgesellschaft wie folgt zusammen: Ich bin was ich habe und was ich konsumiere. Das Sein muss seine Bedeutung einbüßen und tritt in den Schatten. Der Wunsch nach Verschmelzung mit dem eigens erschaffenen Hochglanz-Abbild der Idee von einem maschinellen Ich im Internet bleibt ohne jeden Kontakt zur Realität. Diese aber ist es, welche das „Mensch-Sein“ nun einmal verlangt.
Fernab von Perfektion: Hommage an die höchste Form der Menschlichkeit
Die menschliche Freiheit besteht darin, sich eine eigene Idee des persönlichen Seins erstellen und diese leben zu können. Kant sagte über den Menschen einmal, dass dieser vor allen Tieren durch sein Selbstbewusstsein ausgezeichnet sei, weswegen er ein vernünftiges Tier ist. Was uns zum Menschen macht ist also, dass wir uns unserer Selbst bewusst sind. Dies ist mit aller äußerlichen Erfahrung aufs engste verknüpft. Hierzu gehört auch, die Höhen und Tiefen zu durchleben, zu durchleiden, sie zu genießen, auszuhalten, sich ihnen zu entziehen, Fehler zu machen, zu verzeihen, aufzustehen und an ihnen zu wachsen.
Das alles ist Leben: Entwicklung, Bewegung. Perfektion ist nichts von alledem. Nichts was den Menschen ausmacht, ist perfekt und „funktioniert“ im Sinne einer Maschine. Am wenigsten tut es die menschlichste aller Fähigkeiten: Die uns erdende Gabe des Liebens ist in ihrer vollkommenen Unperfektheit das Schönste und unbezahlbarste Gut. Sie kann niemals maschinell hergestellt und noch weniger von Haben bestimmt werden. Sie ist der Inbegriff des Mensch-Seins.